Berauschend...
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Ist ein Rausch angenehm oder nicht?
Kommt auf die Umstände und die Ursache an – und natürlich darauf, ob wir einen Rausch erleben wollten oder doch lieber vermeiden.
Text: Dr. med. Beat Staub –
Facharzt für Allgemeinmedizin FMH, Diving Medicine Physician EDTC
Die meisten von uns kennen berauschende Ereignisse oder Situationen. Alkohol oder andere Substanzen waren mehr oder weniger gewollt im Einsatz und haben ihre Wirkung entfaltet. Der Rausch findet im Hirn statt. Je nach Ausmass und Situation ist es für die Betroffenen oder die Umgebung manchmal eher lustig oder bemühend. Auch den Liebesrausch haben hoffentlich schon viele erlebt, wenn alles rosa und schmetterlingerfüllt scheint.
Uns Taucher beschäftigt aber wohl eher der Tiefenrausch.
Vor kurzem erlebte ich in meinem Buddy-Team wieder einmal einen Tiefenrausch. Trotz ausführlichem Briefing verhielt sich einer der Pressluft atmenden Taucher in einer Tiefe von etwa 30 Metern plötzlich unkoordiniert und hielt sich nicht mehr an den Tauchplan. Sein unmittelbarer Buddy realisierte erst mit etwas Verspätung, worum es hier ging. Als ihm die Situation dann aber klar geworden war, konnte er problemlos einen Aufstieg einleiten und schon nach wenigen Metern war alles wieder in Ordnung. Einzig der betroffene Taucher machte sich Vorwürfe, nicht zuletzt, weil er sich an gar nichts mehr so recht erinnern konnte. So etwas sei ihm noch nie passiert, sagte er unter wiederholten Entschuldigungen.
Medizinisch gesehen handelt es sich bei einem Rausch um eine Störung des Bewusstseins (von wach bis zum Koma), der Verstandesfähigkeiten, der Wahrnehmung (Augen, Ohren, Berührungen) sowie der Reaktionsfähigkeit, des Verhaltens und der motorischen Fähigkeiten. So beschreibt es die internationale Klassifikation der Krankheiten und so erleben wir es ja auch im Alltag.
Beim Tauchen entsteht der Rauschzustand, wenn sich der im Atemgas enthaltene Stickstoff in den Membranen der Nervenzellen ansammelt und deren Schichtung stört. Die Transportporen dieser mikroskopisch feinen Membranen werden dadurch in ihrer Funktion beeinträchtigt, so dass es zu den bekannten Störungen kommt. Der Vorgang kann durchaus mit einer Narkose verglichen werden. Die Wirkung des Stickstoffs an den Nervenzellen ist physikalisch. Deshalb verschwindet die narkotisierende Wirkung rasch wieder, wenn der Partialdruck des Stickstoffs durch einen Aufstieg um wenige Meter reduziert werden kann.
Im Gegensatz zu einer kontrollierten Narkose ist ein Tiefenrausch von seiner Ausprägung her schwer vorhersehbar und tragischerweise entsteht der Tiefenrausch im bzw. unter Wasser, wo doch durch die eingeschränkte Hirnfunktion eine akute Gefährdung herrscht.
Für die meisten Taucher ist klar, dass ein Tiefenrausch erst ab etwa 30 Metern Tiefe auftreten darf. Allerdings kann schon in wesentlich geringerer Tiefe die narkotisierende Wirkung des Stickstoffs nachgewiesen werden.
Wie bei anderen Rauschzuständen gilt auch hier: die Toleranz für die berauschende Substanz (bei uns Tauchern eben der Stickstoff) ist von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich und bei einzelnen Menschen leider auch von Tag zu Tag. Diejenigen, die von heldenhaften sehr tiefen Tauchgängen mit Pressluft erzählen und damit prahlen, dass sie resistent für einen Tiefenrausch seien unterliegen einem Irrtum. Was heute gut geklappt hat, kann morgen vielleicht fatal enden.
Ein Blick in die medizinische Fachliteratur zeigt, dass der Tiefenrausch immer wieder mal ein Forschungsthema ist. Zwei Publikationen in diesem Zusammenhang fand ich besonders interessant.
Die erste Arbeit stammt von einer südafrikanischen Forschergruppe. Hier ging es um die Frage, ob Berufstaucher unter Druck und bei schlechter Sicht in ihrer Geschicklichkeit beeinträchtigt waren. Diese Frage hat eine besondere Bedeutung, denn Berufstaucher müssen ja in der Lage sein, auch bei schlechten Sichtverhältnissen mit Werkzeugen hantieren und ihre Aufträge erfüllen zu können.
Die Testanlage war beeindruckend: insgesamt 139 Berufstaucher absolvierten in einer Druckkammer einen «Tauchgang» in einer Tiefe von 50m. Auf dieser Tiefe mussten sie den sogenannten Tupperware-Test absolvieren. Bei diesem Test wird ein rundlicher Tupperware-Körper eingesetzt, der verschiedenförmige Öffnungen hat. In diese Öffnungen müssen entsprechende Objekte platziert werden: das Viereck gehört in die viereckige Öffnung, das Dreieck in die dreieckige Öffnung und so weiter. Wer Kinder hat kennt diese Art von «Spielzeug» gut.
Für insgesamt 10 solcher Objekte wurde die Zeit gemessen. Die Messung erfolgte bei einer Gruppe zuerst unter normalen Druckbedingungen und dann in der Kammer, bei einer zweiten Gruppe umgekehrt. Dadurch sollte ein allfälliger Lerneffekt ausgeschaltet werden. Die schlechte Sicht wurde dadurch simuliert, dass den Tauchern ganz einfach die Augen verbunden wurden. Nullsicht also, mit hohen Ansprüchen an die Tastfähigkeit, die Fingerfertigkeit und die Aufmerksamkeit.
Das Resultat bestätigte selbstverständlich die Erwartungen: die Leistungsfähigkeit bei dieser schwierigen Aufgabe war unter Druck deutlich schlechter als an der Oberfläche, und zwar bei beiden Gruppen.
Es wurde aber nicht nur die Zeit gemessen, sondern es wurden auch noch diverse Persönlichkeitsmerkmale erfragt. Man wollte herausfinden, ab bestimmte Eigenschaften zu einer besonders «guten» oder schlechten Leistung führten. Die Forscher wurden nicht fündig: weder Alter, Geschlecht, Schulbildung, Taucherfahrung noch sonstige weitere Faktoren hatten einen Einfluss.
Selbstverständlich können wir die Resultate einer solche Untersuchung nicht einfach so auf uns Sporttaucher übertragen. Denn in der Druckkammer ist es eben trocken, die Temperatur ist angenehm, ganz im Gegensatz zu unseren üblichen Bedingungen.
Ein wesentliches Element fehlte zudem naturgemäss beim Druckkammer-Experiment: die Anspannung! Aus früheren Untersuchungen weiss man nämlich, dass ein wichtiges Risiko-Merkmal die Angst bzw. die Anspannung beim Tauchen ist. Wer sich also auf einen schwierigen Tauchgang einlässt, allenfalls schwierige Aufgaben erfüllen sollte und dementsprechend angespannt ist, hat ein höheres Risiko für eine Stickstoffnarkose.
Das bedeutet, dass wir also durchaus auf unser Bauchgefühl hören sollten bei der Tauchgangsplanung: zum äusseren Druck kommt noch der innere Druck dazu. Man darf also davon ausgehen, dass die Studientaucher in einer richtigen Tauchumgebung noch schlechtere Leistungen erbracht hätten.
Und indem wir wissen, dass unser Gehirn mit zunehmenden Stickstoffpartialdruck «dümmer» und berauschter wird, sollten wir knifflige manuelle Aufgaben zuerst an der Oberfläche in unproblematischer Umgebung üben. Jeder angehende Höhlentaucher hat wohl schon seine Wohnung mit Leinen ver- und belegt und ist mit geschwärzter Maske und dicken Handschuhen von der guten Stube der Leine nach in die Küche gegangen. Diese Übungen haben also ihre Berechtigung. Wir alle wissen ja auch, dass der Umgang mit dem Kompass schon an der Oberfläche nicht immer ganz unproblematisch ist – und unter Wasser erst recht nicht . . .
Tja, wie entgehen wir denn dem Tiefenrausch?
Entspanntes Tauchen, weniger Tiefe – unter Umständen reicht das. Aber vielleicht ist ja unser Ziel eben doch etwas tiefer. Wenn wir an der Tiefe nichts ändern können oder wollen, dann ändern wir eben etwas am Atemgas und benutzen Nitrox. Dabei wird ja dem Atemgas mehr Sauerstoff zugemischt, so dass der Stickstoffanteil geringer wird. Dadurch gewinnen wir an Grundzeit und können das Risiko für einen Tiefenrausch auch noch etwas verringern. Allerdings ist die Tiefe beim Einsatz von Nitrox sehr zu beachten, denn der erhöhte Sauerstoffgehalt im Atemgas hat auch seine Tücken.
Die zweite interessante Publikation befasste sich eben mit Nitrox. Eine französische Forschergruppe untersuchte in einem ersten Durchgang 47 Personen nach einem Tauchgang in der Druckkammer mit einem Ultraschallgerät auf Gasblasen im Gefäss-System. Diese Untersuchungsmethode ist in der Erforschung der Dekokrankheit mittlerweile Standard geworden.
Die 12 Taucher, die am meisten Gasblasen aufwiesen, wurden weiter untersucht. Bei einer ersten 55 Minuten dauernden Druckkammerfahrt auf einer Tiefe von 28m atmenten 7 Personen EAN 36% während die anderen
5 Pressluft erhielten. Nach einem weiteren Ultraschalluntersuch wurde nochmals getaucht – diesmal wurde bei den beiden Gruppen das jeweils andere Atemgas eingesetzt.
Das Ergebnis ist interessant: beim Einsatz von Pressluft als Atemgas kam es in 3 Fällen zu Taucherflöhen. Viel wichtiger aber war die Beobachtung, dass es zu deutlich weniger Gasbläschen in den Blutgefässen kam, wenn Nitrox geatmet wurde.
Die Schlussfolgerung ist deshalb ziemlich prägnant formuliert: Wenn Nitrox innerhalb der Tiefen- und Zeitgrenze richtig eingesetzt wird, erhöht es die Sicherheit beim Tauchen. Wir erinnern uns an die Begriffe EAD und END aus dem Nitrox-Kurs.
Und ich würde noch hinzufügen: wenn beim Tauchen mit Nitrox der Computer auf Luft eingestellt bleibt, gewinnen wir nochmals an Sicherheit.
Auch die sogenannt harten Kerle unterliegen den Gesetzen der Physik . . . Und mit dem Tiefenrausch ist es vielleicht etwas ähnlich wie beim Alkoholrausch: wenn unser Hirn nichts besonderes tun muss (zum Beispiel nur noch heimwärts torkeln), dann überleben wir das schon. Aber wehe, unsere Reaktionsfähigkeit wäre in einer solchen Situation gefragt – und erst recht unter Wasser!
Was hindert uns also, vermehrt Nitrox einzusetzen? Weil es nicht so leicht erhältlich ist wie Pressluft? Weil es vielleicht ein wenig
teurer ist? Weil wir es nach dem Füllen der Flasche und vor dem Tauchen nochmals prüfen müssen und dazu ein Messgerät benötigen? Oder weil wir glauben, wir müssten wie die heldenhaften Taucher einen Tiefenrausch wegstecken können?
Text: Dr. med. Beat Staub
Facharzt für Allgemeinmedizin FMH,
Diving Medicine Physician EDTC
staub@praxis-staub.ch
Literaturangaben beim Autor
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